17.09.2015
Worte, die helfen
Klinikseelsorger am Erfurter Helios geht in den Ruhestand
(Beitrag von Heidrun Lehmann aus der Thüringischen Landeszeitung vom 17. September 2015)
Vielfach verschlungene Lebenspfade ließen Dietmar Andrae wohl zu dem Menschen reifen, der sich als ebenso guter Zuhörer wie auch als Tröster in schwierigen Phasen erweisen sollte. Einer, der das richtige Wort zur richtigen Zeit zu finden vermag. Dabei ginge es in Gesprächen mit Patienten keineswegs nur um Leid und Tod, wie Außenstehende vermuteten, korrigiert der evangelische Klinik-Seelsorger behutsam.
Dem Pfarrer des evangelischen Kirchenkreises Erfurt kommt da der Gedankenaustausch mit einem Kranken in den Sinn, von dem er erfuhr, dass dieser ein begeisterter Sammler von Motorrad-Oldtimern ist. Als gelernter Schlosser konnte Dietmar Andrae die Leidenschaft fürs Schrauben und Basteln mit dem kranken Mann teilen, sodass dieser für geraume Zeit die Schmerzen vergaß. Selbst in der Onkologie sei er zuweilen ins Staunen geraten, mit welch tiefgründigen Erkenntnissen junge Menschen „über Gott und die Welt“ aufwarteten. Gerade dort habe er vielfach erfahren, dass die möglicherweise nur wenigen noch verbleibenden Monate oder Tage intensiver gelebt, das Dasein bewusster wahrgenommen werde, als es der Gesunde in seiner Verflechtung in die täglichen Anforderungen in der Regel vermag. Vorausgesetzt, der Betroffene wünsche, sich mit einem Seelsorger auszutauschen.
Dem vor 65 Jahren in Heldrungen Geborenen war es keineswegs in die Wiege gelegt worden, später einmal in dieser Weise anderen Menschen Zuspruch und Trost spenden zu sollen. Zwar wurde Dietmar Andrae getauft, wie viele seiner Generation, er wuchs jedoch ohne weitere Bindungen an die Kirche heran. Erst während der Lehre ergab sich eher zufällig der Kontakt zur Jungen- und zur evangelischen Studentengemeinde in Naumburg. Dort habe er Antworten auf Fragen erhalten, die ihm sonst niemand geben konnte. So eröffnete sich ihm der Weg zur Theologie mit einem entsprechenden Studium von 1976 bis 1983.
Dem Vikariat in der damals noch eigenständigen Martini-Gemeinde im Erfurter Norden folgten eine Stelle im Hilfsdienst zum Lutherjahr 1983/84 in Eisleben sowie die erste Pfarrstelle in Magdeburg-Olvenstedt bis Herbst 1988. Allerdings schälte sich im Laufe der Jahre heraus, dass diese Kirchengemeinde wenig mit dem Bild gemein hatte, das er selbst von einer christlichen Gemeinde besaß; was ihn vom Studium her mit dem Sinn des Glaubens verband. Zu selbstbezogen und auf die eigene Rückversicherung bedacht, sei diese Gemeinde gewesen.
Vielleicht, so sieht er es heute, habe er auch zu strenge Maßstäbe angelegt. Dietmar Andrae stieg aus dem Pfarrdienst aus. Als Mitarbeiter in der Forschungsstelle für kirchliche Zeitgeschichte in Naumburg fand er eine Anstellung. Mit der politischen Wende sah der inzwischen 40-Jährige die Zeit gekommen, neue Ideen im Land mitgestalten zu wollen. So übernahm er eine Tätigkeit in der Magdeburger Stadtverwaltung – bis Ende 2005, obwohl die Ernüchterung darüber, dass kaum noch gestaltet, sondern nur noch Geld verwaltet werden konnte, schon früher einsetzte.
Es zog ihn wieder zur Theologie, auch weil ihm Menschen mehr am Herzen lagen. Sein Wunsch wurde erhört, eine halbe Pfarrstelle in Magdeburg-Ottersleben wurde ihm zugesprochen. Dass das evangelische Kirchenamt, in dem die Ehefrau angestellt war, nach Erfurt umziehen sollte, überraschte wohl beide. So kam der gebürtige Thüringer nach Erfurt, absolvierte eine Zusatzausbildung und arbeitete seit August 2011 als Klinik-Seelsorger. Im Wechsel mit den katholischen Theologen und zwei evangelischen Kollegen nahm sich der Pfarrer der Sorgen und Nöte der Patienten im Helios Klinikum sowie im Katholischen Krankenhaus St. Nepomuk an, einschließlich der Notruf-Bereitschaft. Dabei erfuhr er, dass die Seelsorge die Theologie „vom Kopf auf die Füße stellt“ und dass er die eigenen Grenzen besser kennenlernte, wie er es formuliert. Wenn ihm die Sorgen und Nöte der Patienten doch einmal zu sehr an die Nieren gehen, finde er Trost bei Kollegen, auch – selbstredend anonym – bei der Ehefrau und nicht zuletzt „im Zwiegespräch mit Gott“, auch wenn das für den Atheisten wie eine Formel klinge.